In eigener Sache: Gamechanger Bundesverfassungsgericht


Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zum Klimaschutzgesetz ist ein Gamechanger. Es wird die Politik in vielen Feldern grundlegend umwälzen, Abwägungsfragen stellen sich völlig neu. Wenn wir aus Vorsorgeprinzip schon für die kommenden Jahre nur noch sehr viel geringere CO2-Budgets verbrauchen dürfen, können uns nicht auf Innovationen der Zukunft verlassen. Sondern wir müssen den heute verfügbaren Reduktions-Technologien und Maßnahmen viel stärker zur Umsetzung verhelfen. Der Beschluss stellt auf frappierende Weise die Frage neu: Wie kommen wir schnell zu einem klimaneutralen Leben?

Im Nachfolgenden die Einordnungen zur Essenz des Urteils und die Schlussfolgerungen aus alle dem.

Der Klimawandel ist ein träger Prozess: Wir wissen nicht, welche Wirkungen wir längst verursacht haben. Pessimistisch betrachtet, haben wir das, was wir vermeiden wollen (die 1,5 Grad-Schwelle zu überschreiten), bereits verursacht. Wir sehen lediglich die Wirkung heute noch nicht, sondern werden sie erst übermorgen erleben.

Was uns die Covid-Krise lehrt: Anders als die Klimawirkung macht die Covid-Krise unmittelbar den Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung erfahrbar – die Ausbreitung des Virus genauso wie die Wirkung staatlichen Handelns. Wir lernen im wirklichen Leben schmerzhaft, was die Einschränkung von Freiheitsrechten bedeutet. Es ist allein tröstlich, dass verantwortungsvolles Verhalten und Impfen ein Ende der Freiheitseinschränkungen absehbar machen. Klimawandel ist anders. Der Ursache-Wirkungs-Prozess ist langsam. Werden erst freiheitsbeschränkende Maßnahmen erforderlich, werden diese lange bestehen, nicht nur für zwei oder drei Jahre, sondern über Generationen.

Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen: Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) stellt durch seinen Beschluss (29.04.2021) klar, dass die Regelungen zum Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen kein feuilletonistisches Postulat sind, sondern eine Handlungsanweisung an unseren Staat: „Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung.“ (Art. 20a GG).

Generationenvertrag: Essenz des Beschlusses ist, dass die gegenwärtige Generation in ihrem Handeln gegen den Klimawandel nichts unterlassen darf, das zu Freiheitseinschränkungen zukünftiger Generationen führen könnte. Im Beschluss heißt es präziser: „Danach darf nicht einer Generation zugestanden werden, unter vergleichsweise milder Reduktionslast große Teile des CO2- Budgets zu verbrauchen, wenn damit zugleich den nachfolgenden Generationen eine radikale Reduktionslast überlassen und deren Leben umfassenden Freiheitseinbußen ausgesetzt würde. Künftig können selbst gravierende Freiheitseinbußen zum Schutz des Klimas verhältnismäßig und verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein; gerade deshalb droht dann die Gefahr, erhebliche Freiheitseinbußen hinnehmen zu müssen.“

CO2-Restbudget: Das BVerfG stellt sich nicht die Frage, ob wir zu einem bestimmten Zieldatum, z.B. 2050, Klimaneutralität realisieren können, müssen oder werden. Das Gericht setzt die “verfassungsrechtlich maßgebliche Temperaturschwelle von deutlich unter 2 °C und möglichst 1,5 °C“ zum Maßstab der Ermittlung eines „CO2-Restbudgets“. Das Gericht fordert eine faire Verteilung des CO2-Restbudgets bis zum Zeitpunkt des Erreichens der Klimaneutralität. Präzise: „[…] verfassungsrechtlich notwendigen Reduktionen von CO2-Emissionen bis hin zur Klimaneutralität vorausschauend in grundrechtsschonender Weise über die Zeit zu verteilen.“ Erschwerend kommt hinzu, dass mit fortschreitender Dekarbonisierung die Kosten für die zu vermeidende Tonne CO2-Emissionen progressiv steigen werden. D.h. ein bis zum Zeitpunkt der Klimaneutralität gleich verteiltes CO2-Restbudget führte zu einer höheren finanziellen Belastung zukünftiger Generationen.

Orientierung geben: Das BVerfG verlangt, dass der Staat mit seinem Handeln Orientierung gibt. In der praktischen Konsequenz heißt dies, dass ein Zielbild von unserer vollständig klimaneutralen Zukunft entworfen werden muss und der Weg dorthin sehr konkret beschrieben werden muss. Dazu das BVerfG: „Das verlangt auch, den Übergang zu Klimaneutralität rechtzeitig einzuleiten. Konkret erforderlich ist, dass frühzeitig transparente Maßgaben für die weitere Ausgestaltung der Treibhausgasreduktion formuliert werden, die für die notwendigen Entwicklungs- und Umsetzungsprozesse Orientierung bieten und diesen ein hinreichendes Maß an Entwicklungsdruck und Planungssicherheit vermitteln.“

Neuer Ambitionsgrad: Bestimmen wir tatsächlich das CO2-Restbudget auf Basis des 1,5-Grad-Ziels, wird deutlich, dass innerhalb dieses Restbudgets Klimaneutralität in Deutschland nicht zu erreichen ist. Durch die Unterlassungen der Vergangenheit ist dies völlig unrealistisch geworden! Wenn man davon überzeugt ist, dass wir innerhalb eines trägen Klimasystems bereits viel mehr Klimawandel verursacht haben als wir an Wirkung heute bereits messen können, stellt sich dies umso kritischer dar. Wir müssen deshalb mit einem neuen Ambitionsgrad Klimaschutzmaßnahmen umsetzen. Das ist nicht nur eine Bürde, es ist eine Chance für eine nachhaltige Weiterentwicklung unserer Gesellschaft.

Neue Abwägungen: Der Beschluss des BVerfG ist vielschichtig. Das Gericht erwägt, dass zu Gunsten von Klimaschutzmaßnahmen auch gravierende Freiheitseinbußen verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein könnten. Wenn erforderliche Klimaschutzmaßnahmen relativ zu Freiheitsrechten überwiegen können, müssen wir auch den Klimaschutz zu anderen Rechtsgütern neu abwägen. Als erstes stellt sich die Abwägungsfrage in Bezug auf Eingriffe in Raum und Natur durch die Errichtung von Windkraftanlagen und Stromleitungen, wenn diese zur Erreichung der Klimaneutralität erforderlich werden. Inwieweit ist ein bestimmtes Landschaftsbild ohne Windrad höherwertiger als die CO2-Reduktion durch die Errichtung eines Windrades? Müssen wir nicht vor diesem Hintergrund Eingriffe durch die Energiewende in einem viel höheren Maße zulassen und diese Eingriffe anhand automatisierter Regelwerke mit äquivalenten Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen kompensieren? Die notwendige Diskussion wird dazu führen, dass wir wieder erkennen, dass unsere Kulturlandschaft vom Menschen gestaltet ist. Jedenfalls ist der Eingriff des Klimawandels in unsere Kulturlandschaft – gemessen an 800.000 ha Klimaschaden im deutschen Wald – bereits heute schwerwiegender als 250.000 MW erneuerbare Erzeugungskapazität in Zukunft sein können.

Schlussfolgerung aus all dem:

  1. Auf allen Ebenen der Steuerung CO2-Restbudgets bestimmen: Städte und Gemeinden, Unternehmen und Institutionen, persönlich.
  2. Das Zukunftsbild des klimaneutralen Lebens entwerfen, insbesondere für die klimaneutrale Stadt, für das Leben auf dem Land. Dies gibt den Menschen Orientierung und zeigt auf, wie Gebäude, Infrastruktur, Mobilität, Industrie … in Zukunft gestaltet sein sollen.
  3. Die Entwicklung eines Umsetzungspfades, der den Anforderungen eines „hinreichenden Maßes an Entwicklungsdruck und Planungssicherheit“ gerecht wird.
  4. Wir müssen überwachen, dass das CO2-Restbudget (auch in finanzieller Hinsicht) generationengerecht verteilt und verbraucht wird. Fehlentwicklungen muss rechtzeitig gegengesteuert werden.
  5. Wir müssen einen fortlaufenden gesellschaftlichen Dialog führen, den Menschen Mitgestaltung ermöglichen und Akzeptanz erlangen.

Es lohnt sich zu lesen: Pressemitteilung und der Beschluss des BVerfG

Ansprechpartner: Ben Schlemmermeier.