Die Gaspreisexplosion – Kartellrechtliche Bewertung des Sachverhalts der Kanzlei Raue


Nachdem wir in unserer Artikelserie der letzten Tage die wirtschaftlichen Gründe des Gaspreisanstiegs und die Rolle von Gazprom beleuchtet haben, schließen wir heute mit einem Beitrag zur rechtlichen Sachverhaltsprüfung ab, um uns der Frage zu Schadensersatzansprüchen zu nähern.

Wie ist der Sachverhalt kartellrechtlich zu bewerten?

Anna von Bremen LL.M. (Berkeley), Rechtsanwältin, RAUE PartmbB

Es liegt nahe, dass das Verhalten der Gazprom export LLC („Gazprom“) einen Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung nach Art. 102 Abs. 2 lit. b) des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union („AEUV“) sowie gemäß § 19 Abs. 1 und ggf. § 29 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen („GWB“) begründet. Ferner könnte das Verhalten von Gazprom gegen das Marktmanipulationsverbot aus Art. 5 der Verordnung (EU) Nr. 1227/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2011 über die Integrität und Transparenz des Energiegroßhandelsmarkts, („REMIT“) verstoßen.

Grundsätzlich gilt für die Prüfung von Marktanteilen im Energiemarkt eine Jahresbetrachtung. Im Strommarkt kann ein Unternehmen auch dann marktbeherrschend sein, wenn es in mindestens 5% der Stunden eines Jahres unverzichtbar für die Deckung der Stromnachfrage war („Pivotalanalyse“).1 Ob dieser Ansatz auch für den Markt für das Angebot von Erdgas auf der Importstufe anwendbar ist, wurde von dem Bundeskartellamt in der Gazprom/VNG Entscheidung angesichts der Speicherbarkeit von Erdgas bezweifelt2, aber letztlich offengelassen.

Hier bedarf es angesichts der Marktanteile von Gazprom auf der Gasimportstufe oberhalb von 40 % auch auf Basis einer Jahresbetrachtung keiner Entscheidung darüber, ob die Pivotalanalyse von BNetzA und BKartA auch im Bereich des Gasmarktes Anwendung finden soll. Denn auf der Importstufe, die nach der Abgrenzung des Gasmarktes nach wie vor den Markt für die Erschließung, die Förderung und den (Erst-)Absatz von Erdgas darstellt3, betrug der Marktanteil von russischem Erdgas im Jahr 2020 nach den Angaben des statistischen Bundesamts 55,2 %.

Grafik

Marktanteile Gas in Deutschland 2020

Eine Kapazitätszurückhaltung stellt eine Form des Ausbeutungsmissbrauchs dar und ist desalb kartellrechtswidrig. Obwohl die Kapazitätszurückhaltung als Form des Ausbeutungsmissbrauchs bislang vor allem im Strommarkt aufgrund der dort vorherrschenden, geringen Nachfrageelastizität diskutiert wurde, gelten die Grundsätze im Gasmarkt gleichermaßen. Denn trotz der teilweise Speicherbarkeit von Erdgas löst auch hier eine Verknappung ein Ansteigen der Großhandelspreise zum Schaden der Verbraucher aus. Ein solches Verhalten entspricht dem Regelbeispiel in Art. 102 Abs. 2 lit. a) AEUV („Einschränkung der Erzeugung, des Absatzes oder der technischen Entwicklung zum Schaden der Verbraucher“) und ist deshalb missbräuchlich.

Es bleibt die Frage der sachlichen Rechtfertigung, für die technische oder wirtschaftliche Gründe in Betracht kommen. Als technischer Grund könnte beispielsweise der in der Presse4 erwähnte Brand in einer Verarbeitungsanlage nahe der westsibirischen Stadt Nowy Urengoi in Frage kommen. Ein wirtschaftlicher Grund könnten die höheren Gaspreise auf den asiatischen Märkten sein, soweit die Preisunterschiede nicht durch entsprechende höhere Transportkosten zunichte gemacht werden. Die Äußerungen des russischen Botschafters bei der EU, wonach eine frühere Zertifizierung von Nord-Stream 2 „natürlich besser für die Endverbraucher sei“,5 lassen Zweifel am Bestehen eines technischen oder wirtschaftlichen Grundes aufkommen. Soweit damit ein objektiver Rechtfertigungsgrund fehlt, liegt die Verwirklichung des Verbotstatbestands des Ausbeutungsmissbrauchs nahe. In der Rechtsfolge können betroffenen Gashändlern und Endverbrauchern Schadensersatzansprüche zustehen. Das gleiche gilt für Stromhändler und -verbraucher, falls die derzeit extremen Strompreise mit den hohen Bezugskosten von Gaskraftwerken im Zusammenhang stehen.

Nicht fernliegend ist zudem der Vorwurf der Marktmanipulation unter Verstoß gegen Art. 5 REMIT. Soweit sich Gazprom derzeit auf angebliche geringere Lieferkapazitäten, beispielsweise aufgrund des oben genannten Brandes, beruft, drängen sich Ähnlichkeiten zu Fällen vorgetäuschter Nichtverfügbarkeiten von Kraftwerken auf. Soweit ein Kraftwerksbetreiber eine Nichtverfügbarkeit vortäuscht, sehen Bundesnetzagentur und Bundeskartellamt in ihrem Leitfaden zu Preisspitzen im Strommarkt darin eine Marktmanipulation.6 Nichts anderes dürfte für diesen Fall gelten.

Ansprechpartner: Anna von Bremen LL.M. (Berkeley), Rechtsanwältin, RAUE PartmbB

Hiermit endet die Artikelserie zum Thema Gaspreisexplosion. Mit den aus vielen Jahren gewonnenen Erfahrungen bei Kartellverfahren und anderen juristischen Auseinandersetzungen können die Kanzlei Raue und LBD bei der Geltendmachung von Ansprüchen, der Interessenvertretung und der zugrundeliegenden Sachverhaltsdarstellung wertvolle Unterstützung leisten.

Und wir bleiben bei diesem Thema am Ball. Für alle, die sich für eine vertiefte Diskussion des Themas interessieren, haben wir folgenden Veranstaltungshinweis.

 

1 Vgl. Bundeskartellamt, Januar 2011, Sektoruntersuchung Stromerzeugung und -großhandel, Januar 2011 S. 106.
2 BKartA, Beschluss vom 31. Januar 2012, Az. B8-116/11, Rz. 118.
3 siehe das Schaubild des BKartA zur Marktabgrenzung, abrufbar unter: https://www.bundeskartellamt.de/SharedDocs/Graphik/Graphik_Marktabgrenzung.pdf;jsessionid=DAE1ED48C8152C833BE4542DE89F9FD8.1_cid390?__blob=publicationFile&v=4
4 https://www.zfk.de/energie/gas/brand-in-gasanlage-gazprom-reduziert-lieferungen-nach-westen
5 https://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/zertifizierung-von-nord-stream-2-russland-erhoeht-druck-auf-deutschland-a-6a062da3-b4ed-4b7a-8900-8a59536d6315
6 BKartA, BNetzA, Leitfaden für die kartellrechtliche und energiegroßhandelsrechtliche Miss-brauchsaufsicht im Bereich Stromerzeugung/-großhandel – Preisspitzen und ihre Zulässig-keit –, 27. September 2019, Rz. 70.